Lugano zwischen «Kapital des 21. Jahrhunderts» und Casino

03.09.25 - Von Urs Berger

Welches Gesicht wird der HC Lugano dieses Jahr zeigen? Der Club trifft im Südtessin auf Hochfinanz und Glücksspiel. In einem Augenblick scheint Lugano wie ein Fallbeispiel aus dem Buch von Thomas Piketty «Kapital des 21. Jahrhunderts», das andere Mal wie Glücksspieler im Casino. Transfers und Verträge sind entweder kluge Investitionen oder landen auf dem Spieltisch des Roulettes. Entweder Jackpot – oder die Bank kassiert alles, und das Konto ist schneller leer, als die Saison zu Ende ist. Mittendrin in diesem Spiel ist der neue General Manager Janick Steinmann. Ob er am Ende Banker oder Spieler ist, kann erst am Ende der Saison gezeigt werden.

Mit Niklas Schlegel und Joren van Pottelberghe stehen zwei gute, aber nicht überragende Schlussmänner im Tor. Wobei dies sehr salopp und nicht immer treffend ist. Vor allem van Pottelberghe hat das Talent, sich noch weiter zu steigern. Ob er unter dem neuen Trainer Tomas Mittel die klare Nummer eins werden wird, ist abzuwarten. Van Pottelberghe muss nun aber endlich den Schritt aus dem Schatten machen und Schlegel verdrängen. Gelingt ihm dies nicht, dann wird er immer mehr zum ewigen Talent, das sich nicht durchsetzen vermag – genau so, wie dies Schlegel beim SC Bern nicht gelang.

Diese Konstellation könnte die Tür für den dritten Schlussmann öffnen. Ihn als Risikokapital zu bezeichnen, ist nicht gewagt, sondern naheliegend. Er ist ein junger Torhüter, der die ganze Zukunft vor sich hat. Noch ist er nicht börsenreif – pardon: NL-tauglich. Aber wenn die beiden Chips auf dem Rouletttisch nicht Gewinn abwerfen, wieso nicht mit einem jungen Goalie das Experiment wagen? Genau dies könnte für Mittel das Argument sein, das sticht – um die Arrivierten zu mehr Leistung anzustacheln.

Bis anhin hat sich die Investition in Santeri Alatalo gelohnt. Der Verteidiger ist erfahren, routiniert und spielt nicht mehr so spektakulär wie in der Vergangenheit. Zusammen mit Samuel Guerra ist dies solides Mittelfeld – nicht gehoben, aber stabil genug, dass das Fundament nicht beim leichtesten Windhauch oder Börsencrash umgeblasen werden kann.

Mit Carl Dahlström und dem neu verpflichteten Connor Carrick ist die Defensive stark. Dahlström ist ein grosser, aber nicht unbedingt mobiler Verteidiger. Wer sich aber in seinem Bereich aufhält, muss mit seiner Aufsässigkeit rechnen. Jedoch ist er physisch nicht der stärkste Spieler. Dies macht er indes wett mit einem geschickten Stellungsspiel. Das Gegenteil ist Carrick. Der Amerikaner bringt Energie und Aggressivität ins Spiel, die dem Gegner unter die Haut gehen kann. Er kann ein Spiel in die entscheidende Richtung lenken – um im nächsten Einsatz zu überdrehen und sein Team dem Momentum zu berauben. Am besten lässt er sich als Trader an der New York Stock Exchange beschreiben: immer im Hochrisikobereich, aber mit dem nötigen Glück an seiner Seite.

Mit Jesper Peltonen und Mirco Müller stehen zwei „defensive Aktien“ im Kader der Bianconeri, die man nicht übersehen sollte. Auch wenn sie selten im Spiel auffallen, sind beide für Lugano unverzichtbar. Sie geben der Verteidigung den Halt, den die offensiveren Spieler vernachlässigen könnten. Genau diese Mischung könnte Lugano unberechenbar für den Gegner machen.

Die grosse Frage ist, ob die jungen Spieler sich in Lugano durchsetzen können. Nick Meile, Brian Zanetti, David Aebischer und Enea Togni sind vielversprechende Talente – «Blue Chips» im Frühstadium, noch nicht im SMI kotiert, aber mit Potenzial für die Zukunft. Die Herausforderung: Sie dürfen nicht im Partnerteam geparkt oder von Arrivierten blockiert werden. Mittel muss diese Investments geschickt entwickeln, sonst bleiben sie ungenutztes Kapital.

Im Sturm ist das Bild noch verzwickter. Doch als ehemaliger begnadeter Spieler dürfte Trainer Mittel die Herausforderung des Roulettes lieben – oder hassen. Je nach Laune seiner Chips, die hier als Spieler gesehen werden sollten. In der Vergangenheit mussten Luca Fazzini und Calvin Thürkauf die Last der Offensive schultern. Nach dem Abgang von Mark Arcobello in den Ruhestand liegt nun vorerst alles bei ihnen. Sie spielen mit Herzblut und Identität. Aber das reichte, wie die Vergangenheit zeigt, zu keinem Titel.

Hier trifft es sich gut, dass Steinmann mit Brendan Perlini, Zach Sanford, Mike Sgarbossa und Rasmus Kupari neue Assets holen konnte – und mit Jiri Sekac einen behalten wollte. Doch sind diese Spieler das Geld wert, das ihnen Lugano geboten hat? Hier war vermutlich das Kapital die treibende Kraft – und nicht unbedingt die kluge Wahl. Alles kann als Investment aufgehen oder abstürzen. Börsenkritiker würden diese Verpflichtungen als «High Risk» einstufen. Doch wer weiss – vielleicht sind es genau diese Spieler, die den Ausschlag geben werden?

Gut haben die Tessiner noch weitere Spieler mit Aleksi Peltonen, Giovanni Morini und Alessio Bertaggia. Alle drei sind perfekte Ergänzungen, um in der zweiten oder dritten Linie zu agieren und dem Team Tiefe zu geben. Ihren Wert an der Börse einzuschätzen, ist fast unmöglich. Was würde wohl Piketty sagen, wenn er über das Kapital dieser drei Spieler schreiben müsste? Wohl: Mittelmass trifft grosse Geldbörse.

Marco Zanetti, Lorenzo Canonica und Roberts Cjunskis sind junge, aufstrebende Spieler, die in Zukunft bei Lugano aufblühen könnten. Wer in diese Spieler klug investiert, wird in Zukunft eine stabile Mannschaft haben. Genau hier wird Steinmann gefordert sein. Ist er gewillt, aus dem grossen Namenstopf der älteren Generation die richtigen Kandidaten herauszupicken und diese auf den Markt zu werfen, um den Jungen die wichtige Erfahrung einer NL-Saison zu geben?

In Rapperswil gelang es Steinmann, Substanz zu bauen. Geduldig, clever und nachhaltig formte er die SCRJ Lakers zu einem Klub, der nicht immer brilliert, aber seinen Platz in der NL gefunden hat. Nun spielt er in Lugano zwischen Börse und Casino, zwischen Investment und Rouletttisch. Aktuell wirkt er eher wie ein Spieler, der seine Jetons zu schnell über den Tisch schiebt. Und es gibt noch eine weitere Frage: Wieso wechselte er vom behaglichen Rapperswil, vor den Toren des Kinderzoos in die Löwengrube des Schweizer Eishockeys? Hat er sich überschätzt – oder liebt er das Spiel im Casino mehr als die Behaglichkeit am Zürichsee?

Und vielleicht die entscheidendste Frage: Wer All-in spielt, steht schnell mit leeren Taschen da. Genau dies scheint beim Blick auf das Kader der Fall zu sein. Wobei – und das ist der Reiz im Eishockey wie an der Börse oder im Casino – wer nichts riskiert, hat im Eishockey auch noch nie etwas gewonnen.

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